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Zwischen Wunderkind und Sonderling


“Hochbegabter Junge macht mit neun Jahren seinen Schulabschluss – und hat schon große Plaäne”, titelte der Stern am 06.02.2023. “Mit einem Jahr sprach Ruben ganze Sätze – mit fünf konnte er lesen”, schrieb die Welt im Jahr 2022. Diese Reihe an reißerischen Artikeln würde sich noch laänger fortsetzen lassen. Doch nicht nur in Zeitungen und Magazinen findet man Artikel über Hochbegabung.


Auch für Dokumentationen sind sie hochinteressant. So sendete beispielsweise die Deutsche Welle 2022 die Dokumentation “Hochbegabung: Fluch oder Segen? - Die Einsamkeit der Hochbegabten”. Neben Geschichten aus dem echten Leben prägen auch Serien und Filme unser Bild von Hochbegabung. So erzählt Big Bang Theory die Geschichten unserer Lieblingsnerds. Sheldon der unter Zwangsstörungen leidet, soziale Probleme hat und seine Beziehung zu seinem Mitbewohner in einer Vereinbarung regelt. Denn kluge Menschen lieben Regeln. Leonard, der sozial halbwegs kompetent ist, aber in Sachen Liebesbeziehungen kein Glück hat. Und dann noch Howard, der das intelligente Muttersöhnchen ist. Charaktere, die dafür gedacht sind, dass wir über sie lachen und uns über deren schrullige Eigenschaften lustig machen können.


Viele Stereotype, wenig Forschung


Aus diesen Artikeln und der Serie Big Bang Theory gehen zwei Stereotype hervor, die über Hochbegabung bedient werden. Einmal den des Wunderkinds, das alles kann, das akademische Höchstleistungen vollbringt und der Stereotyp des sozial schwierigen Sonderlings, der zwar eine Koryphäe auf seinem Gebiet sein mag, aber mit zwischenmenschlicher Interaktion überfordert ist. Das erste Stereotyp wirkt auf den ersten Blick wie ein Privileg, das hochbegabten Personen zu mehr Status verhelfen könnte, wird aber meistens wiederum durch das zweite Stereotyp relativiert. Wie wirken sich diese gesellschaftlichen Narrative auf hochbegabte Personen, aber auch auf die Vorstellungen über sie aus?


Wer Antworten in der Forschung sucht, wird erstmal enttäuscht: Es gibt insbesondere in Deutschland wenige wissenschaftliche Untersuchungen von Stereotypen zu Hochbegabung. Eine der wenigen prominenten Forscherinnen ist Tanja Gabriele Baudson. Sie beschäftigt sich schon lange mit dem Thema Hochbegabung und hat dazu auch einen Blog geführt, der eine gute Quelle ist, um sich über Hochbegabung im Allgemeinen zu informieren. Außerdem führte sie verschiedene Studien für den Hochbegabtenverein Mensa durch. 2016 leitete sie für Mensa eine Befragung, in der sie untersucht hat, welche Assoziationen Menschen mit dem Begriff Hochbegabung haben.


Vermeintlich positive Stereotype, relativiert durch soziale Unfähigkeit und Fehlverhalten


Sie hat dabei zwei Sichtweisen ausgemacht, die sich mit den beiden Stereotypen decken, die eingangs erwähnt wurden. In der Fachsprache nennt sie das den harmonischen und den disharmonischen Typ. Unabhängig davon, welchem Typ die Personen entsprechen, assoziieren sie mit Hochbegabung vor allem Höchstleistung. Der disharmonische Typ schreibt Hochbegabten jedoch zusätzlich mangelnde soziale Kompetenz zu und hält Hochbegabte für Störenfriede. Rund zwei Drittel der Befragten entsprachen diesem disharmonischen Typ und hatten somit negative Gedanken zu hochbegabten Personen. Ob eine Person eher zum disharmonischen oder zum harmonischen Typ gehört, ist nahezu unabhängig von sozialer Herkunft, eigener Intelligenz und Geschlecht. Heißt: die Stereotype über Verhaltensauffälligkeiten und soziale Unfähigkeit sind nicht nur überspitze Darstellungen in unterhaltsamen Filmen, sie sind Ausdruck dessen, was Menschen in der realen Welt über hochbegabte Personen denken.


Doch welche Auswirkungen haben diese Geschichten auf das Leben von Hochbegabten? Ich selbst bin hochbegabt, wie ich seit der 7. Klasse weiß. An einem ansonsten unscheinbaren Tag im Januar 2015 machte ich einen Test. Damals wusste ich noch nicht, wie dieses Testergebnis mein Leben verändern sollte. Denn seit diesem Tag sind diese Geschichte, die über Hochbegabung erzählt werden, auch meine Geschichten. Doch gehen wir nochmal den Schritt zurück, bevor ich wusste, dass das meine Geschichte sein soll.


Andersartigkeit kann nicht richtig eingeordnet werden, wenn wir in Stereotypen denken


„Hochbegabte Personen sind Wunderkinder“, so dachte ich über hochbegabte Menschen und hätte mich selbst nie in diese Kategorie eingeordnet. Menschen, die hochbegabt sind, müssten mindestens 5 Fremdsprachen sprechen, Mathematik auf universitärem Niveau im Kindergarten lösen und spätestens mit 14 ihr Abitur ablegen, so meine Vorstellung. Davon war und bin ich meilenweit entfernt. Was stimmt: Ich war gut in der Schule, ohne viel dafür zu tun, habe als Kind früh gesprochen und war generell sehr wissbegierig. Was auch stimmt: In der Schule bin ich eigentlich nie negativ aufgefallen und hatte immer Freunde. Trotzdem war ich irgendwie anders und fühlte mich manchmal falsch. Denn einige Dinge die ich als total einfach empfand waren für andere schwierig oder mit sehr viel Aufwand verbunden. Ich war zum Beispiel erstaunt darüber, wie oft andere Mitschüler ihre Vokabeln wiederholten, um sie für einen Test zu lernen, während dies für mich deutlich schneller ging. Wenn ich das jedoch anderen erzählte, glaubte man mir nicht, sondern unterstellte mir ich würde heimlich lernen.


Auf die Idee, dass meine Andersartigkeit eventuell durchs Hochbegabt sein bedingt sein könnte, kam ich nicht. Wie auch? Ich konnte mich überhaupt nicht in dem binären Bild wiedererkennen, das von Hochbegabten gezeichnet wird. Entweder waren es die absoluten Wunderkinder oder die sozial schwierigen Kinder, die allzu oft aneckten. Ich war weder noch. Durch einen Zufall hatte ich das Glück, in einem Ferienlager mit einem anderen hochbegabten Kind in Kontakt zu kommen. Seine Sicht auf die Dinge zu hören und zu sehen, wie überraschend normal er war, war für mich augenöffnend. Auf einmal lag es für mich im Bereich des möglichen, dass mein anders sein, durch eine Art der Begabung kam. Seine Geschichte zu hören, hat für mich alles geändert. Ansonsten wäre ich vermutlich nie auf die Idee gekommen, mich testen zu lassen.


Der Blick der Anderen; gesellschaftlicher Anspruch auf Höchstleistung, bedient vom Wunderkind


Seit dem Ferienlager und dem anschließenden Test hat sich für mich einiges verändert. Wie bei anderen Diagnosen, hilft mir die Kategorisierung „hochbegabt“, mein Verhalten, meinen Blick auf die Welt, meine Identität besser einzuordnen. Aber, wenn ich Menschen davon erzähle, sind sie oft überrascht. Die Standardantwort lässt sich in etwa so zusammenfassen: “Also ich habe dich ja schon für ganz klug gehalten, aber du bist ja eigentlich auch ganz sozial kompetent und kein so krasses Wunderkind”. Ich finde es erstaunlich, wie offen die Menschen ihre Stereotype zugeben, die sie über Hochbegabte haben.


Wenn ich Energie habe, erkläre ich, dass ihre Stereotypen auf die meisten Hochbegabten nicht zutreffen. Wenn ich Glück habe, nimmt das Gespräch danach eine andere Wendung und es werden keine Gedächtnistests durchgeführt, oder auf eine andere Art überprüft, ob ich doch irgendwie in ihre Stereotype passe.


Mir ist bewusst, dass hochbegabt sein, im Gegensatz zu anderen Zuschreibungen auch positive Konnotationen hat. Ich möchte nicht so tun, als wären meine Erfahrungen gleichzusetzen mit anderen Diagnosen, die ausschließlich stigmatisiert sind. Und ich weiß auch, dass ich, im Gegensatz zu anderen Identitätsmerkmalen das Glück habe, dass ich mich meistens frei entscheiden kann, ob und wenn ja wann ich diese Information mit anderen teile. Somit kann ich erst ein Bild von mir aufbauen, das diesen Stereotypen widerspricht und diese somit widerlegen. Ich verweise auch manchmal auf meine Freunde, die auch hochbegabt sind, aber eventuell keine Höchstleister. Viele von ihnen leiden darunter, dass ihre Hochbegabung von ihrem Umfeld nicht anerkannt wird, da sie vermeintlich besser in der Schule/Universität/Beruf sein müssten. Hochbegabung als Diagnose ist erstmal ein Teil der Identität, ohne dass irgendjemand dadurch irgendjemandem irgendwas schuldig sein sollte.


Das Verstecken dieses Teils meiner Identität geht nicht, wenn ich den Namen meiner Schule nenne. Nach der 7. Klasse bin ich aufs Landesgymnasium für Hochbegabte gewechselt. Dort habe ich auch mein Abitur gemacht und seit dem prangt das Prädikat auf meinem Lebenslauf. Das kann sowohl unberechtigterweise positive Assoziationen bei meinem Gegenüber wecken, als auch negative. Beispielsweise wurde ich in einem Bewerbungsgespräch gefragt, ob ich mir überhaupt vorstellen könnte in einem Team zu arbeiten, da ich ja hochbegabt sei und deshalb Probleme mit Menschen hätte. In solchen Momenten wird mir immer bewusst, wie sehr ich in den Augen anderer Leute dem Bild des Hochleisters entspreche, das unsere Gesellschaft zeichnet und erfüllt sehen will. Mich stört das, denn es zeigt zum Einen den unerbittlichen Anspruch nach Höchstleistung auf, der in unserer Gesellschaft verankert ist und zum Anderen die einseitige Vorstellung davon, wer diese auf welche Art erbringen kann. Das ist nicht nur für diejenigen ein Problem, die diese nicht erbringen können – sondern sogar für diejenigen, die theoretisch genau ins Muster passen.


Eine andere Geschichte erzählen; Gegennarrative nutzen, um Stereotype zu brechen


Obwohl ich den Namen meiner Schule etwas unglücklich finde, bin ich doch sehr froh dort gewesen zu sein. Denn dort habe ich andere Geschichten von hochbegabten Menschen gesehen. Menschen, die noch andere Eigenschaften haben als hochbegabt zu sein. Die sportlich sind, die lustig sind, die lebensfroh sind und manchmal auch ziemliche Nerds. Ich möchte auch den Menschen, die in solchen Artikeln und Reportagen porträtiert werden, nicht ihre Geschichte absprechen oder fordern, dass diese Geschichten nicht erzählt werden sollen. Aber es sollten auch die weniger außergewöhnlichen Geschichten erzählt werden.


Wir sind keine Exoten, die in ihrer eigenen Welt entkoppelt leben, sondern haben eine Gabe Informationen schneller und manchmal auch auf andere Weise zu verarbeiten. Wie sich das auf den Menschen auswirkt, ist genauso individuell wie die Menschen an sich. Deswegen würde ich mir mehr Sichtbarkeit wünschen, die weniger exotisiert und aufzeigt, dass Hochbegabung nicht gleichzusetzen ist mit Höchstleistung. Das wir davon weit entfernt sind und sich stattdessen die Stereotype so hartnäckig halten, das sagt auch viel darüber aus, wie sehr Leistungsfähigkeit die Maxime unserer Gesellschaft den Wert eines Menschen bestimt. Schluss damit.


Der Text ist im Seminar „Diversity und Sozialkompetenz“ am Hasso-Plattner-Institut entstanden, welches Rea Eldem, Gründerin und Geschäftsführerin von IN-VISIBLE leitet. Der Autor ist Student des Studiengangs IT-Systems Engineering und möchte lieber nicht mit seinem Namen veröffentlicht werden. Neben seinem Studium denkt er darüber nach, wie Technologie unser Zusammenleben positiv verändern und zugänglicher für alle machen kann.



 

Quellen: Stern Artikel: https://www.stern.de/familie/kinder/hochbegabter-junge-macht-mit-9-seinen-schulabschluss ---und-hat-grosse-plaene-33170626.html (Abgerufen: 24.03.2023) Welt Artikel: https://www.welt.de/vermischtes/article240306247/12-jaehriger-Abiturient-Mit-einem-Jahr- sprach-Ruben-ganze-Saetze-mit-fuenf-konnte-er-lesen.html (Abgerufen: 24.03.2023) Deutsche Welle Dokumentation: https://youtu.be/dHwbkVtpUz0 (Abgerufen: 24.03.2023) Tanja G. Baudson, 2016 Frontiers in Psychology: The Mad Genius Stereotype: Still Alive and Well DOI: 10.3389/fpsyg.2016.00368 Url: https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fpsyg.2016.00368/full

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