Migra, FLINTA* und neurodivergent? Wie unsere Neurodivergenz Unternehmen resilienter macht
- Gastautor*in
- 9. Apr.
- 5 Min. Lesezeit
Immer wieder hören und lesen wir von der Komplexität der modernen Arbeitswelt, die geprägt ist von ständigem Wandel, Unsicherheit und einer überwältigenden Flut an Informationen. Nichts ist mehr wie früher, vielerorts besteht die Herausforderung darin, das Vergangene hinter sich zu lassen und sich mutig auf das Jetzt und die Zukunft einzulassen. Mitten in diesem Spannungsfeld stellen sich Teams die Frage, wie sie ihre Zusammenarbeit gestalten wollen.
Auf der Suche nach Antworten, sticht eine häufig unterschätzte Fähigkeit hervor: Ambiguitätstoleranz – die Kunst, widersprüchliche Realitäten zu erkennen, zu navigieren und im besten Fall gemeinsam zu verwandeln.
Und hier kommen wir ins Spiel. Gerade Menschen, die auf mehrfache Weise marginalisiert und/oder neurodivergent sind, beispielsweise FLINTA*-Personen mit Migrationsgeschichte und ADHS, mussten ihre Leben lang mehrere (kulturelle) Codes und Perspektiven auf mehreren Ebenen gleichzeitig navigieren. Im Arbeitskontext zeigt sich diese Fähigkeit unter anderem in ihrer Rolle als Brückenbauer*innen.
Neurodivergenz ist in diesem Kontext besonders hervorzuheben, weil es auf neurologischer Ebene eine andere Wahrnehmung der Welt mit sich bringt und dementsprechend auf elementarer Ebene das Miteinander prägt. Gleichzeitig sind die Studien zu den sozialen Konsequenzen, wie auch im Arbeitskontext, noch sehr jung, weshalb Ableitungen für einen adäquaten Umgang zum Vorteil aller noch rar gesät sind und Erfahrungsräume brauchen.
Warum Neurodivergenz Unternehmen stärken kann
Der Begriff Neurodivergenz entstand in den 1990er Jahren, geprägt von der Autistin Judy Singer. Die wohl bekanntesten Ausprägungen von Neurodivergenz sind Autismus, ADHS und Legasthenie, es gibt jedoch weitaus mehr. Während Neurodivergenzen lange als Krankheiten und Defizite verkannt wurden, ist heute bekannt, dass alle Menschen auf einem neurologischen Spektrum einzuordnen sind. Es ist kontextabhängig, ob und wie die Verschiedenheit von neurodivergenten und neurotypischen Menschen sozial wahrgenommen und bewertet wird. Als vorteilhaft im Arbeitskontext hat sich laut bisheriger wissenschaftlicher Untersuchungen die Kombination aus unterschiedlichen Ausprägungen erwiesen, auch als neurodiverse Teams bezeichnet.
Studien des Hewlett Packard Enterprise Programms zeigen, dass diese Teams durch das Ineinandergreifen und Ergänzen der Vielfalt an Denkweisen und Fähigkeiten eine höhere kollektive Intelligenz entwickeln, sich besser auf Herausforderungen einstellen, qualitativ bessere Entscheidungen treffen und rund 30 % effektiver arbeiten. So können Diversität im Allgemeinen und eben auch Neurodivergenz Unternehmen in vielerlei Hinsicht stärken.
Neurodivergente Mitarbeitende bringen wichtige Fähigkeiten mit
Einige auf Ambiguitätstoleranz basierende Fähigkeiten, die neurodivergente Menschen in Teams bringen, sind:
Frühes Erkennen von Strukturen und Mustern: Wer im Alltag ständig damit konfrontiert wird, dass Systeme und Abläufe nicht auf die eigene Realität zugeschnitten sind, entwickelt einen geschärften Blick dafür, wo Prozesse gut funktionieren und wo sie haken. Diese Fähigkeit ist vor allem dann wertvoll, wenn es darum geht, ineffiziente oder ungerechte Strukturen, sowie versteckte Diskriminierungsmechanismen in Organisationen aufzudecken.
Kreative Lösungsfindung: Mehrfach marginalisierte Menschen sind es gewohnt, Hindernisse zu überwinden, für die es oft keine Standardlösung gibt. Daraus entsteht ein hohes Maß an Einfallsreichtum und Anpassungsfähigkeit. Sie verbinden scheinbar widersprüchliche Ideen zu neuen Ansätzen und bringen so Kreativität in ihre Teams und deren Entscheidungsprozesse.
Konfliktkompetenz und Empathie: Wer selbst verschiedene Perspektiven in sich trägt, kann oft besser zwischen den Zeilen hören und verstehen, was Menschen wirklich bewegt. Dieses Einfühlungsvermögen ist in Situationen, welche von Spannungen geprägt sind, ein starker Vorteil.
Resilienz: Mit wiederkehrenden Barrieren und paradoxen Situationen konfrontiert zu sein, formt eine umfassende Widerstandskraft. Die Fähigkeit, Veränderungen fast in Echtzeit verstehen und sich anpassen zu können, kann für Teams in Zeiten des Wandels enorm motivierend sein und alle mitziehen
Strukturelle Barrieren bremsen uns, und euch somit auch!
Obwohl diese Stärken scheinbar auf der Hand liegen, können sie sich oft nicht in vollem Umfang entfalten. Damit neurodivergente Mitarbeitende ihr Potenzial voll ausschöpfen und diese Fähigkeiten in Organisationen einbringen können, braucht es bestimmte Voraussetzungen. In vielen Organisationen gibt es strukturelle Barrieren, die mehrfach marginalisierte Menschen daran hindern, ihr Potenzial einzubringen – und damit letztlich die ganze Organisation bremsen.
Strukturelle Barrieren umfassen:
Unbewusste Vorurteile und fehlende Anerkennung: Vorurteile gegenüber Menschen, die „anders“ denken oder aussehen, sind in vielen Teams noch tief verankert. Oft werden deren Beiträge „übersehen“ oder als „unpassend“ abgetan, bevor sie überhaupt richtig verstanden wurden.
Mangelnde Repräsentation in Entscheidungspositionen: Sind Führungs- und Entscheidungsebenen nicht divers aufgestellt, werden einseitige Denkweisen zementiert. Ideen und Perspektiven von mehrfachmarginalisierten Mitarbeitende finden kaum Eingang in strategische Diskussionen.
Fehlende inklusive Strukturen: Eng getaktete Meetings, reizüberflutende Großraumbüros, unklare Kommunikationswege: Was für viele schon anstrengend ist, wird für neurodivergente Kolleg:innen oft zum unüberwindbaren Hindernis. Unangepasste Arbeitsumgebungen führen dazu, dass Betroffene sich zurückziehen oder gar nicht erst zeigen, was sie können.
Keine klare Zuständigkeit für Diversität & Inklusion: Häufig fehlt es an institutionellen Anlaufstellen – wie z. B. Diversity-Offices, inklusiv geschulten Personalabteilungen oder Ansprechpersonen im Betriebsrat. Wenn niemand sich verantwortlich fühlt, versanden viele Ansätze im Tagesgeschäft.
Tokenism statt echter Einbeziehung: In manchen Unternehmen werden Menschen mit Migrationsgeschichte oder neurodivergente Mitarbeitende zwar gezeigt, aber nicht wirklich eingebunden. So bleibt ihr Wissen ungenutzt, und sie fühlen sich nicht respektiert.

Was braucht es konkret? Veränderungen auf allen Ebenen
Strukturelle Barrieren erfordern strukturelle Antworten. Einzelne Initiativen helfen – doch um wirklich nachhaltig zu wirken, müssen Organisationen systematisch an mehreren Stellschrauben drehen. Um die auf Ambiguitätstoleranz basierenden Stärken von neurodivergenten Menschen weitestgehend zu fördern. Hier ein paar Beispiele, wie Unternehmen neurodivergente Mitarbeiter*innen unterstützen können:
Vertrauenskultur & psychologische Sicherheit: Führungskräfte und Teams müssen lernen, Zweifel, Rückfragen und widersprüchliche Positionen als Bereicherung zu sehen. Wenn es möglich wird, sich auch mit kritischen Beobachtungen zu Wort zu melden, können komplexe Herausforderungen lösungsorientiert angegangen werden.
Diversität in Entscheidungsprozessen: Es braucht klare Mechanismen, die sicherstellen, dass unterschiedliche Perspektiven gehört werden – zum Beispiel durch feste Quoten in Gremien oder durch Rotationsprinzipien für Meeting-Leitungen. Wichtig ist, dass diese Maßnahmen mehr sind als bloße Formalitäten.
Inklusive Arbeitsgestaltung: Reizärmere Büros, flexible Arbeitszeiten, klare Kommunikationsregeln, hybride Modelle: Was neurodivergenten Menschen den Alltag erleichtert, hilft oft dem gesamten Team. Struktur schafft Orientierung und öffnet Freiräume für Kreativität.
Sensibilisierung & Empowerment: Um Vorurteile abzubauen, braucht es kontinuierliche Schulungen und offene Gespräche. Gleichzeitig sollten Unternehmen Betroffenen gezielt Entwicklungs- und Karrieremöglichkeiten bieten, etwa durch Mentoring oder interne Netzwerke.
Rolle von Allies und Führung: Allies – also Verbündete, die sich aktiv für mehr Gerechtigkeit und Barrierefreiheit einsetzen – sind entscheidend. Sie sorgen dafür, dass marginalisierte Personen nicht allein das System verändern müssen. Hier spielen gerade Führungskräfte eine Schlüsselrolle: Wer Strukturen gestalten kann, trägt eine besondere Verantwortung.
Davon profitieren alle: Anpassungen im Arbeitsumfeld wie reizärmere Büros, klare Abläufe und offene Kommunikation kommen nicht nur neurodivergenten, sondern auch neurotypischen Kolleg:innen zugute und setzen Kapazitäten frei. Denn auch neurotypische Menschen kostet es mentale Ressourcen z.B. Informationslücken durch Interpretation zu überbrücken oder die Wahrnehmung störenden von Reizen zu unterdrücken.
Von Strukturen, die unsere Stärken stärken, profitieren alle
Menschen, die auf mehrfache Weise marginalisiert sind, bringen nicht nur eine hohe Ambiguitätstoleranz mit, sondern auch die Fähigkeit, Mechanismen zu durchschauen, komplexe Herausforderungen zu meistern und zwischen verschiedenen Welten zu vermitteln. Doch solange sie in starre Strukturen eingebunden werden, die ihrem Potenzial im Weg stehen, bleiben diese Stärken unentdeckt – zum Nachteil aller.
Unternehmen, die sich ernsthaft für Inklusion und Diversität einsetzen, schaffen nicht nur fairere Bedingungen, sondern profitieren von mehr Innovationskraft, Resilienz und Mitarbeiterzufriedenheit. Es braucht eine klare Strategie, die strukturelle Hürden abbaut, Allies und Führungskräfte in die Verantwortung nimmt und allen ermöglicht, sich mit ihren vollen Fähigkeiten einzubringen. So wird aus einem Nebeneinander ein echtes Miteinander – und Ambiguitätstoleranz zu einer Ressource, die für Organisationen im 21. Jahrhundert unverzichtbar ist.
Über die Autorinnen
Alex Wolf (she/they) ist strategische Beraterin, Co-Design Facilitatorin, Narrativgestalterin und Gründerin von realutopia. Ihre Mission ist es, die Art und Weise, wie Organisationen mit systemischen Herausforderungen umgehen, zu transformieren. Dafür arbeitet sie an der Schnittstelle von Prozessdesign, Storytelling, und Regeneration und unterstützt Impact Organisationen dabei, systemische Veränderungen zu navigieren und mitzugestalten. Selbst neurodivergent und mit Migrationsgeschichte, arbeitet sie in vielfältigen Kontexten mit Menschen mit ADHS.
Diana Wittmann ist Mental Health Coachin für von Marginalisierung betroffene Menschen, selbst neurodivergent und hat Migrationsgeschichte. Ihre Expertise liegt außerdem im Aufbau und der (Weiter-)Entwicklung von Communitys/Netzwerken. Sie ist übrigens gerade auf der Suche nach einer neuen passenden Tätigkeit in diesem Bereich und freut sich über Kontakte.