Wenn im Arbeitsleben über Diversität und Inklusion gesprochen wird, geht es meistens um einige wenige Dinge: Geschlecht, Race, Behinderung, vielleicht noch Alter oder sexuelle Identität. Was häufig außen vor gelassen wird, ist die soziale Herkunft, d.h. mit welchen finanziellen Ressourcen und welchem sozialen Kapital ein Mensch aufgewachsen ist. Dabei spielt gerade die soziale Herkunft im Arbeitsleben oft eine entscheidende Rolle. Wer schon in jungen Jahren sozial gut gestellt ist, hat einen leichteren Start ins Berufsleben. Sei es das selbstverständliche Studium, von den Eltern mitfinanzierte Auslandsaufenthalte oder unbezahlte Praktika, oder einfach nur das Selbstbewusstsein, sich im Mittelstand zuhause zu fühlen - was auf den ersten Blick nach neutralen Anforderungen klingt und in vielen Unternehmen gefragt ist, ist nicht für alle gleichermaßen erreichbar. In diesem Gastbeitrag erklärt Nils Urban, warum wir von Chancengleichheit auch 2024 noch weit entfernt sind.
Klassismus in der Bildung - Die soziale Herkunft bestimmt über Chancen
Menschen auf deutschen weiterführenden Schulen lassen sich in zwei Gruppen
aufteilen, sodass in der einen 59,8% ein Gymnasium besuchen, in der anderen nur
26,7%. Die Merkmale, nach denen hier unterschieden wurde, sind das Einkommen und
der Bildungsgrad der Eltern (Wößmann et al., 2024). Die Diskriminierungsform, welche
diese Diskrepanz zustande bringt, nennt sich Klassismus.
Klassismus ist die Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft (Amadeu Antonio
Stiftung). Die Soziale Herkunft setzt sich aus mehreren Faktoren zusammen, dazu
gehören Vermögen und der Bildungsgrad. Im Bildungsbereich ist zudem die
Wohnsituation relevant: für eine erfolgreiche Schulbildung ist ein ruhiger Lernort
wichtig, an dem Hausaufgaben erledigt und für Prüfungen gelernt werden kann. Die im
Haushalt gesprochenen Sprachen beeinflussen, ob Sprachbarrieren den Lernprozess
erschweren und wie gut die Kommunikation mit Lehrkräften gelingt. Der Lernerfolg wird
auch dadurch beeinflusst, wie gut Eltern bei Schwierigkeiten unterstützen und ihren
Kindern fachliche Inhalte vermitteln können, wenn im Unterricht nicht alles verstanden
wurde.
Der sozioökonomische Status lässt sich auch anhand verschiedener Formen von Kapital
betrachten (Bourdieu, 2012). Das Kulturelle Kapital beschreibt, welchen Zugang eine
Person zu kulturellen Gütern wie Büchern, Zeitungen und Kunst hat, auch in ihrer
Funktion als Statussymbol. Damit verbunden ist das verkörperte kulturelle Kapital. In
Einrichtungen der Hochkultur, wie Theatern und Museen, gilt ein spezifischer
Verhaltenskodex. Dieser muss erlernt werden, um dort nicht negativ aufzufallen. Für den
Bildungsweg und die spätere Karriere relevant ist auch das soziale Kapital, welches die
persönlichen Kontakte beschreibt. Ein Netzwerk an einflussreichen, gut situierten
Personen ist in vielen Problemsituationen hilfreich.
Bildungschancen und Geschlecht - von Alleinerziehung bis Gender Pay Gap
In Deutschland sind alleinerziehende Familien mit 41% besonders oft armutsgefährdet.
Von allen alleinerziehenden Eltern sind 82,3% weiblich (Menne et al., 2024). Der
Gender-Pay-Gap zeigt, dass die ökonomische Situation von Frauen auch allgemein
schlechter ist, als die von Männern. Zurzeit liegt er unbereinigt bei 18%, bereinigt bei 6%
(Statistisches Bundesamt, 2024). Das Ehegattensplitting begünstigt, dass sich der
schlechter verdienende Ehepartner ökonomisch vom besserverdienenden abhängig
macht, meist zum Nachteil von Frauen. Ihre ökonomische Benachteiligung verstärkt den
Klassismus, der ihnen bzw. ihren Kindern begegnet. Es liegt eine Intersektionalität der
beiden Diskriminierungsformen vor. Die Soziologin Angela McRobbie beschreibt, dass
von Frauen heute erwartet wird, Care-Arbeit und Karriere durch enorme Anstrengungen
zu vereinen (McRobbie, 2010). Dies werde mit der Annahme begründet, die
Gleichstellung sei theoretisch und regulatorisch bereits vollumfänglich umgesetzt.
In der Folge wird von alleinerziehenden Müttern erwartet, allein für das Kind zu sorgen, und
gleichzeitig eine gute ökonomische Situation der Familie zu sichern. Diese Erwartungshaltung zeigt sich in zwei Statistiken. Zum einen leisten alleinerziehende
Mütter im Schnitt 15 Stunden mehr Care-Arbeit pro Woche als alleinerziehende Väter.
Sie stecken in ihrer Erwerbsarbeit deutlich stärker zurück. Zum anderen werden in
Deutschland nur in 25% der Fälle die verpflichtenden Unterhaltszahlungen der
alleinlebenden Elternteile vollumfänglich gezahlt. In 50% der Fälle erreichen das
alleinerziehende Elternteil überhaupt keine Unterhaltszahlungen (Menne, 2024). Das
deutet darauf hin, dass sich die Väter oft nicht verantwortlich fühlen, und die
Verantwortung für das Großziehen des Kindes stattdessen allein bei der Mutter sehen.
Insgesamt lenkt der Fokus auf die Selbstverantwortlichkeit der Mutter für ihre
ökonomische Situation von den systemischen Missständen ab, die zu ihrer schlechten
Situation beitragen.
Rassismus und Klassismus sind eng verschränkt
Auch mit Rassismus besteht Intersektionalität. Einerseits führt Rassismus zu einer
schlechteren ökonomischen Lage der Betroffenen. Andererseits wird Menschen aus
rassistischen Gründen ein schlechterer sozioökonomischer Status zugeschrieben, als
tatsächlich vorliegt. In einer Umfrage sagten 27,7% der aufgrund ihrer
sozioökonomischen Lage Diskriminierten, dass sie auch aus rassistischen Gründen
diskriminiert werden. Im Bildungsbereich trifft es häufig Menschen aus der Türkei, dem
nahen Osten und Nordafrika (Beigang et al., 2017).
Klassismus in der Bildung - Eigenverantwortlichkeit hilft hier nicht weiter
Um konkrete Auswirkungen von Klassismus zu betrachten, fangen wir bei der ersten
Stufe der staatlich organisierten Bildung an: dem Kindergarten. Bei Kindern aus
einkommensarmen Familien lassen sich bereits hier Defizite im sprachlichen,
motorischen und kognitiven Bereich feststellen (Volf et al., 2023). Diese bleiben bis zum
Eintritt in die Grundschule bestehen (Autor:innengruppe Bildungsberichterstattung,
2022). Kindergärten schaffen es oft nicht, schlechtere Bedingungen in den Familien
auszugleichen. Der Staat setzt stattdessen auf die Selbstverantwortlichkeit der
Familien. Er nimmt in Kauf, dass der Bildungserfolg von Kindern von Anfang an davon
abhängt, in welche Familie sie zufällig hineingeboren wurden. Anhand dessen werden
sie vom Bildungssystem und der Leistungsgesellschaft diskriminiert.
Auch bei der Wahrscheinlichkeit des Gymnasialbesuches bestehen Diskrepanzen. Bei
gleichen kognitiven Fähigkeiten ist eine Gymnasialempfehlung bei einer höheren
Dienstklasse der Eltern viermal so wahrscheinlich, wie bei einer niedrigen Dienstklasse
(McElvany, 2021). Hier liegen der Diskriminierung keine Fähigkeitsdefizite zugrunde,
sondern allein Vorurteile über einen Zusammenhang von Dienstgrad und
Bildungserfolgen.
An der Universität spielt Klassismus ebenfalls eine Rolle. Erst einmal ist das Abitur
Voraussetzung für ein Studium, und der Weg dorthin ist nicht für alle gleich schwer.
Auch die Finanzierung eines Studiums stellt Familien vor unterschiedlich große
Probleme. In Fällen, in denen das zustehende Bafög nicht zur Finanzierung ausreicht,
sind Studierende auf das Wohlwollen der Eltern angewiesen. Sind die Eltern nicht
zahlungsbereit, können Kinder klagen, doch dieser Weg ist anstrengend und erfordert
Überwindung. Mit einem umfangreichen Nebenjob bleibt weniger Zeit für
Studieninhalte. Statistisch ist ein Studium deutlich weniger wahrscheinlich, wenn in der
Familie bisher noch niemand studiert hat (Hass, 2023).
Den Staat in die Verantwortung nehmen: Wie Chancengleichheit erreicht werden kann
Wie kann die Chancengleichheit nun verbessert werden? Die klassistische,
vorurteilsgetriebene Diskriminierung kann dadurch bekämpft werden, indem wichtige
Entscheidungen entlang der Bildungslaufbahn objektiver gestaltet werden.
Entscheidungen wie die Wahl der weiterführenden Schule sollten nicht der subjektiven
Einschätzung einer oder zweier Lehrkräfte unterliegen. Noch besser wäre es, diese
Entscheidung so weit wie möglich zu verzögern und ihre Tragweite zu verringern. Das
kann durch die Verlängerung der Grundschule geschehen, um das verfrühte
„Aussortieren“ zu vermeiden und den Kindern bzw. der Schule mehr Chancen zu geben,
Ungleichheiten auszugleichen. Auch die Schulformen selbst können angepasst werden.
In mehreren Bundesländern wurden Hauptschulen bereits abgeschafft. Stattdessen gibt
es neben dem Gymnasium nur noch eine weitere Schulform, an der oft alle
Schulabschlüsse abgelegt werden können. Eine voreilige Beschränkung der
Bildungsperspektiven wird so verhindert. Beide Ansätze haben sich in Studien als
effektiv herausgestellt, um die Chancengleichheit in der Bildung zu verbessern
(Wößmann et al., 2024).
Damit diese Ansätze größtmöglichen Erfolg haben, muss jedoch auch die andere
Ausprägung des Klassismus behoben werden: die tatsächlich existierenden Differenzen
in den Fähigkeiten, je nach familiären Umständen. Der Staat ist zurzeit nicht in der Lage,
diese Differenzen auszugleichen. Die Herausforderungen sind ungleich auf die
Kindergärten und Schulen verteilt, doch auch in der Bilanz reichen die Ressourcen nicht
aus, um allen Kindern gleiche Chancen zu ermöglichen. Auf die Selbstverantwortlichkeit
der Familien kann hier nicht verwiesen werden. Denn die Betrogenen sind die Kinder, die
für ihre familiären Umstände in keiner Weise verantwortlich sind. Der Staat kann seine
Verantwortung nicht auf die Familien abwälzen. Er muss selbst dafür sorgen, dass
Teilhabe in allen vielfältigen Aspekten der Bildung gewährleistet ist. Vielleicht dauert es
in Deutschland irgendwann nicht mehr sechs Generationen, um in die Mittelschicht
aufzusteigen (Deutscher Bundestag, 2018).
Soziale Herkunft im Arbeitsleben mitdenken
Berufliche Qualifikation ist also nicht so neutral, wie man das als Recruiter*in gerne glauben würde. Aber während grundlegende Veränderungen auf lange Sicht schon im Schul- und Sozialsystem beginnen müssen, können auch Unternehmen ihren Teil zu größerer Chancengleichheit beitragen. Soziale Herkunft und ihre Herausforderungen bei der Auswahl von Bewerber*innen mitzudenken und auch die eigenen Einstellungskriterien zu hinterfragen, ist ein wichtiger erster Schritt hin zu mehr Inklusion. Und das ist es wert: Denn Menschen mit unterschiedlichen sozialen Herkünften bringen eine Vielfalt von Perspektiven mit ins Team, die eingefahrene Denkweisen durchbrechen können. Wer schon früh lernen musste, aus geringen Ressourcen das Beste zu machen, ist häufig innovativer, pragmatischer und resilienter - Eigenschaften, die Unternehmen heute mehr denn je brauchen.
Dieser Text ist im Seminar „Diversity im Lern- und Arbeitsumfeld“ entstanden, welches Rea Eldem, Gründerin und Geschäftsführerin von IN-VISIBLE, am Hasso-Plattner-Institut leitet. Der Autor Nils Urban ist Student des Studiengangs IT-Systems Engineering.
Quellen
Wößmann, L., Schoner, F., Freundl, V., Pfaehler, F. (2024). Ungleiche Bildungschancen:
Ein Blick in die Bundesländer. ifo Schnelldienst, 5 / 2024. https://www.ifo.de/DocDL/sd-
2024-05-ungleiche-bildungschancen-woessmann-etal-.pdf
Amadeu Antonio Stiftung.
klassismus-diskriminierung-aufgrund-sozialer-herkunft/
Bourdieu, P. (2012). Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In VS
Verlag für Sozialwissenschaften eBooks (S. 229–242). https://doi.org/10.1007/978-3-
531-18944-4_15
Menne, S., Funcke, A. (2024). Factsheet Alleinerziehende in Deutschland. Bertelsmann
Stiftung. https://www.bertelsmannstiftung.
de/de/publikationen/publikation/did/alleinerziehende-factsheet-2024
Statistisches Bundesamt (2024). Gender Pay Gap 2023: Frauen verdienten pro Stunde
18 % weniger als Männer. Pressemitteilung Nr. 027 vom 18. Januar 2024.
McRobbie, A. (2010). Top girls: Feminismus und der Aufstieg des neoliberalen
Geschlechterregimes. VS Verlag für Sozialwissenschaften
Beigang, S., Fetz, K., Kalkum, D. Otto, M. (2017). Diskriminierungserfahrungen in
Deutschland. Ergebnisse einer Repräsentativ- und einer Betrogenenbefragung. Hg. v.
Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Baden-Baden: Nomos
Autor:innengruppe Bildungsberichterstattung (2022). Bildung in Deutschland 2022. wbv
Media
McElvany, N., Lorenz, R., Frey, A., Goldhammer, F., Schilcher, A., Stubbe, T. (2021).
Lesekompetenz von Grundschulkindern im internationalen Vergleich und im Trend über
20 Jahre. Institut für Schulentwicklungsforschung. Technische Universität Dortmund.
Waxmann Verlag. https://ifs.ep.tu-dortmund.de/storages/ifsep/
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Hass, A. (2023). Als Erste:r in der Familie studieren. LMU München.
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Deutscher Bundestag (2018). Soziale Mobilität in Deutschland.
e/WD-9-095-18-pdf-data.pdf
Weblinks zuletzt überprüft am 13.09.2024