Sexualisierte Gewalt am Arbeitsplatz, häufig in der Form von sexueller Belästigung entsprechend der Definition des AGG (§ 3 Abs. 4), ist ein schwerwiegendes, gesamtgesellschaftliches Problem, das erhebliche Auswirkungen auf die physische und psychische Gesundheit der Betroffenen sowie auf die Arbeitsumgebung, Produktivität und Leistungsfähigkeit hat. Das Thema wird jedoch oft tabuisiert, wodurch Betroffene sich schämen oder Angst haben, Vorfälle zu melden. Das Machtgefälle spielt dabei eine zentrale Rolle, da es oft dazu führt, dass sich Betroffene machtlos fühlen und nicht wagen, Vorfälle zu melden. Täter*innen nutzen ihre Machtposition aus, um Druck auszuüben oder Drohungen auszusprechen. Dieses Ungleichgewicht verstärkt die Dynamik der Angst und des Schweigens und fördert eine toxische Arbeitsumgebung. Daher ist es wichtig, das Bewusstsein zu schärfen, Präventionsmaßnahmen zu fördern und eine unterstützende Kultur am Arbeitsplatz zu schaffen.
Fast jede zweite Frau erlebt sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz
Statistiken belegen die Verbreitung dieses Problems in Deutschland und der EU. Eine Studie der Europäischen Agentur für Grundrechte [1] zeigt, dass etwa 55 % der Frauen in der EU sexuelle Belästigung erlebt haben, während in Deutschland fast jede zweite Frau im Arbeitsleben betroffen ist. Diese Zahlen verdeutlichen den Handlungsbedarf: sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ist kein Ausnahmefall. Besonders gefährdet sind Branchen mit einem unausgeglichenen Geschlechterverhältnis oder starkem Machtgefälle. Laut der Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes von 2019 [2] sind das Gastgewerbe, der Gesundheits- und Pflegebereich, der Bildungssektor, die Dienstleistungsbranche sowie die Unterhaltungsindustrie besonders betroffen, da in diesen Bereichen oft intensiver Kundenkontakt und Machtgefälle vorherrschen.
Fehlende Präventionsmaßnahmen: Unternehmen lassen Betroffene oft im Stich
Die Wirkung von Präventionsmaßnahmen wird oft unterschätzt, was gravierende Folgen haben kann. Ohne klare Präventionsmaßnahmen treten Vorfälle häufiger auf, und Betroffene fühlen sich unsicher, Vorfälle zu melden. Dies fördert eine toxische Arbeitskultur, in der Machtmissbrauch und Übergriffe geduldet werden. Unternehmen riskieren zudem rechtliche Konsequenzen, Reputationsschäden und finanzielle Einbußen, wenn sie das Thema nicht ernsthaft angehen. Für Betroffene sind die Folgen oft noch tiefgreifender. Kurzfristige Auswirkungen können Schock, Angst, Scham, Schuldgefühle und Wut sein, während langfristige Folgen chronische Angst, Depressionen, posttraumatische Belastungsstörungen, psychosomatische Beschwerden und negative berufliche Auswirkungen umfassen. Betroffene können an schweren psychischen Problemen wie Depressionen und Angststörungen leiden, und ihre berufliche Entwicklung kann durch verminderte Arbeitsleistung, Fehlzeiten, Jobwechsel oder sogar Berufsaufgabe beeinträchtigt werden. Das Vertrauen in zukünftige Arbeitsumgebungen kann nachhaltig gestört sein. Die Tabuisierung sexualisierter Gewalt führt oft dazu, dass Unternehmen Vorfälle verharmlosen oder ignorieren und Betroffene nicht ausreichend unterstützen. Oft fehlen klare Richtlinien und transparente Prozesse zur Meldung und Bearbeitung von Vorfällen, was das Problem weiter verschärft.
Wie können Unternehmen sexueller Belästigung am Arbeitsplatz vorbeugen?
Ein sicheres und respektvolles Arbeitsumfeld bietet jedoch zahlreiche Vorteile – nicht nur für Betroffene, sondern auch für Unternehmen. Mitarbeiter*innen, die sich sicher und respektiert fühlen, sind motivierter, loyaler und weniger krank, was zu gesteigerter Produktivität und Zufriedenheit führt. Unternehmen profitieren langfristig durch geringere Fehlzeiten und eine positive Unternehmenskultur, während Betroffene ohne Angst arbeiten und ihr volles Potenzial entfalten können. Um ein solches Umfeld zu schaffen, können Unternehmen klare Verhaltenskodizes und Richtlinien einführen, regelmäßige Schulungen über sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz zur Sensibilisierung für Führungskräfte und Mitarbeitende durchführen, sichere und anonyme Meldesysteme einrichten und eine Null-Toleranz-Politik gegen Belästigung implementieren. Manche Unternehmen nutzen moderne Technik, wie VR-Brillen, um sexualisierte Gewalt erfahrbar zu machen und so zu sensibilisieren. Förderung offener Kommunikation, Unterstützung von Betroffenen und eine klare Haltung gegen Diskriminierung und Gewalt sind essenziell. Führungskräfte sollten Vorbilder sein und aktiv eine respektvolle und inklusive Kultur fördern. Sie und die Personalabteilungen sollten Vorfälle ernst nehmen, schnell handeln und sowohl präventive als auch reaktive Maßnahmen umsetzen.
Das AGG schützt vor Belästigung, muss aber durchgesetzt werden
In Deutschland gibt es rechtliche Rahmenbedingungen wie das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), das Schutz vor Diskriminierung und Belästigung bietet. Es gibt jedoch Kritik, dass diese Gesetze nicht immer effektiv durchgesetzt werden und Betroffene oft auf rechtliche und bürokratische Hürden stoßen. Es ist wichtig, dass Betroffene verstehen, dass Vorfälle, die nach dem AGG relevant sind, nicht zwangsläufig strafrechtlich verfolgt werden können. Auch in strafrechtlich relevanten Fällen stehen Betroffene oft vor sozialen, emotionalen und rechtlichen Hürden, wie dem Stigma der Opferrolle, Angst vor Vergeltung, mangelndem Vertrauen in das Justizsystem und der Schwierigkeit, Beweise vorzulegen. Die Angst vor Arbeitsplatzverlust und langwierige Verfahren sind weitere Herausforderungen.
“Gemeinsam gegen Sexismus” - auch als Arbeitsgeber*in
Wir als Gesellschaft können das Bewusstsein für sexualisierte Gewalt am Arbeitsplatz schärfen und den Druck auf Unternehmen erhöhen, aktiv zu werden. Dem Bündnis „Gemeinsam gegen Sexismus“ haben sich bereits über 700 Organisationen angeschlossen. Wir können unsere Arbeitgeber auffordern, Teil dieser Bewegung zu werden, und die Arbeit des Bündnisses bekannter machen. Öffentlichkeitsarbeit, Aufklärungskampagnen und die Förderung offener Diskussionen in Medien und Unternehmen können Arbeitnehmer*innen ermutigen, aktiv zu werden. Durch Petitionen, Lobbyarbeit und Unterstützung von Organisationen, die sich für sichere Arbeitsumfelder einsetzen, kann gesellschaftlicher Druck erzeugt werden, der zu langfristigem Wandel führt.
Nina Fuchs, die den gemeinnützigen Verein Kein Opfer e.V. gegründet hat, der sich im Kontext von Aufklärungs-, Präventions- und Öffentlichkeitsarbeit den Themen sexualisierter Gewalt, K.-o.-Tropfen und Konsens widmet, arbeitet als Konsens-Trainerin für das Seminarzentrum Diversity Lab. Gerade im Arbeitskontext ist eine Konsenskultur die Grundvoraussetzung für ein sicheres Arbeitsumfeld, in dem sich alle wohl fühlen und produktiv sein können. Im Moment ist ein Online-Kurs zu sexualisierter Gewalt am Arbeitsplatz im Entstehen, der nicht nur im Sinne der Prävention ein Grundwissen zu sexualisierter Gewalt, Victim-Blaming, Zahlen und Fakten liefert, sondern auch darauf eingeht, was man als Unternehmen tun kann, wenn jemand von den Mitarbeitenden Opfer von sexualisierter Gewalt im Arbeitskontext wird. Mit diesem Online-Kurs sollen nicht nur die Unternehmen erreicht werden, die Bündnispartner und Teil des Netzwerks von „Gemeinsam gegen Sexismus“ sind, sondern so viele Unternehmen und Organisationen wie möglich, um sexualisierter Gewalt nachhaltig vorzubeugen und eine bessere Arbeitswelt für alle zu schaffen. Zu den größten Herausforderungen dieser Tätigkeit zählen das Überwinden von Tabus, die Sicherstellung ausreichender Finanzierung, der Widerstand von Unternehmen und Institutionen sowie die oft langwierige Arbeit, Bewusstsein und strukturelle Veränderungen herbeizuführen.
[1] Quelle: Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA): Gewalt gegen Frauen: eine EU-weite Erhebung. Factsheet; Weblink: https://fra.europa.eu/de/publication/2014/gewalt-gegen-frauen-eine-eu-weite-erhebung-factsheet
[2] Quelle: Antidiskriminierungsstelle des Bundes (2019). " Umgang mit sexueller Belästigung am Arbeitsplatz – Lösungsstrategien und Maßnahmen zur Intervention"; Weblink: https://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/forschungsprojekte/DE/Studie_Umgang_mit_sex_Bel_am_ArbPlatz.html