Vor Beginn eines Programmstarts machen wir immer einen Bedürfnis-Check mit allen Teilnehmenden, egal ob sie eine Behinderung haben oder nicht. Das ist wichtig, denn wir sind darauf angewiesen, dass die Teilnehmenden uns verraten, was sie brauchen. Das ist auch adaptierbar auf andere Kontexte, denn Barrierefreiheit bedeutet für jeden Menschen etwas anderes. Unsere Teilnehmenden co-kreieren das Programm; niemand hat die Wissenshoheit, auch ich nicht.
Sophie Dienberg baut ein Startup Inkubator Programm auf, das sowohl für Menschen mit als auch ohne Behinderung zugänglich ist. Stopp. Sind denn bestehende Inkubator-Programme nicht für Menschen mit Behinderung da? Nun ja, theoretisch schon. In der Praxis bemerkte Sophie allerdings, wie Voreingenommenheiten und struktureller Bias zum Ausschluss führen. Das will sie ändern. In unserem Gespräch erklärt sie, wie.
Hey Sophie. Du baust gerade ein Inkubatorprogramm, das speziell auf Inklusion achtet. Heißt das, dass die herkömmlichen Programme das nicht tun?
Ja, genau so ist es. Das war mir selbst auch nicht bewusst. Als Person ohne Behinderung fehlten mir da die Einblicke. Aber dann habe ich 2020 in Uganda ein Innovationsprogramm geleitet, mit dem Ziel digitale Innovationen im Menschenrechtsbereich in Uganda zu stärken. Das better place Lab in Zusammenarbeit mit Future Challenges in Berlin war Auftraggeber, umgesetzt wurde das Ganze von StartHub Africa, einer lokalen Firma. Und bei diesem Programm hat sich dann ein hervorragendes Team beworben, indem alle Teammitglieder gehörlos waren. Sie waren der ugandischen Gebärdensprache mächtig und wollten gern mitmachen. Und darauf waren mein Team und ich zunächst gar nicht vorbereitet. Ich habe gemerkt: Wir haben einen Fehler gemacht, wir haben das Programm nicht von Beginn an inklusiv gedacht.
Und, was habt ihr dann gemacht?
Wir haben uns gefragt: Wie bekommen wir es hin, dass es diesem Team mit dieser coolen Idee möglich ist, teilzunehmen? Wir haben digitale Tools abgeändert, closed captions genutzt, Gebärdensprachdolmetscher*innen für Pitches und so weiter aufgenommen. Ich habe das Team letztlich ein halbes Jahr selbst als Mentorin begleitet - und dabei viel gelernt.
Was denn so?
Zum Beispiel habe ich mich dabei ertappt, in einigen Aspekten voreingenommen zu sein, dem Team weniger zuzutrauen als anderen Teams. Mich ärgerte es, dass ich positiv überrascht war als ich bemerkte, was für grandiose Fortschritte sie in kürzester Zeit machten. Wäre ich bei einem Team ohne Behinderungen genauso überrascht gewesen? Ich glaube nicht. Das hat mich dazu bewegt, meine Einstellung zu überdenken und zeigte mir, wie wichtig es ist, auch Menschen mit Behinderungen schwierige Aufgaben zuzutrauen. Wir sind nach wie vor in Kontakt und immer wieder überzeugen sie mich durch ihre klaren Rollenverteilung, dem gegenseitigen Aufgabenverständnis und demokratischen Führungsstil des Teamleiters. Sie arbeiten auch heute noch an ihrer Idee.
Das klingt nach einer wichtigen persönlichen Erfahrung für dich. Aber wie war das für das Team?
Das Team war sehr pragmatisch und ich habe gelernt, wie allgegenwärtig Barrieren im Alltag sind. Die Zusammenarbeit gab mir vor allem den wichtigen Einblick in die Einstellungen des Systems, obwohl ich keine Behinderung habe und dieses meistens für mich funktioniert.
Danach dachte ich: Okay, Ostafrika ist die eine Sache. Aber wie läuft das mit der Inklusion in der Startup-Szene eigentlich hier in Deutschland? Ich habe mich ohne große Vorkenntnisse in die Arbeitsmarkt-Thematik eingearbeitet, mir andere Startup-Programme angesehen und bin in die Strukturen eingetaucht. Und bemerkte: Es gibt wenig Alternativen für Menschen mit Behinderung. Es gibt ein paar Angebote, die Menschen mit Behinderung beim Aufbau einer Solo-Selbstständigkeit unterstützen, aber ein barrierefreier Startup-Inkubator für den Ausbau von innovativen und skalierbaren Ideen war nicht dabei.
Wieso gibt es da so wenig? Es gibt schließlich viele Menschen in Deutschland, die mit einer Behinderung leben. Wäre es nicht naheliegend, diese auch als Zielgruppe in Innovationsprogrammen mitzudenken?
Doch, total. Jede achte Person hat eine Behinderung; jede zehnte Person in Deutschland eine Schwerbehinderung. Selbstverständlich haben die coole Ideen und Gestaltungsvorstellungen. Deshalb haben wir inKlub gegründet - die inklusive Gründer*innen-Community und das barrierefreie Startup-Programm für Menschen mit und ohne Behinderungen.
Klingt nach Pionierarbeit. Lass uns mal über den Gründungsprozess reden. Inwieweit haben sich hier auch gesellschaftlich präsente Vorbehalte bemerkbar gemacht, z.B. als du um Gelder werben musstest?
Es gab komische, teils ableistische Fragen zu der Zusammenarbeit mit Menschen mit Behinderungen beim Auswahlprozess zum Gründungsstipendium. Natürlich unwissentlich, jedoch verletzend. Das war sehr unangenehm und hat gezeigt, wie wenig die meisten nichtbehinderten Menschen (in Entscheidungspositionen) über Menschen mit Behinderungen wissen. Andere wiederum bemerkten diese unpassende Frage, schritten aber nicht ein. Berührungsängste gibt es überall und wir sollten offener darüber reden und Allyship zeigen.
Das klingt unschön. Ging es da um sprachliche Dinge oder auch Vorbehalte gegenüber deinem Vorhaben an sich?
Es ging vor allem darum, was Menschen mit Behinderungen zugetraut wird, und was nicht. Ich musste viel Überzeugungsarbeit leisten, um zu erklären, warum Menschen mit Behinderungen Innovationsbereitschaft mitbringen und sich daher als Zielgruppe für mein Programm eignen.
Wir wollen die Förderung von inklusiven Startups unterstützen, egal ob von Menschen mit oder ohne Behinderung. Es geht darum, einen systemischen Wandel herbeizuführen. Startups, die sich heute inklusiv aufstellen, sind zukünftig die Unternehmen, die Menschen mit Behinderungen selbstverständlich beschäftigen und so zu einem inklusiven ersten Arbeitsmarkt beitragen.
Ist das wirklich immer so? Ich frage, weil ich die Erfahrung gemacht habe, dass Teilhabe und Inklusion von so vielen Faktoren gleichermaßen abhängen. Wenn eine Person Diskriminierungserfahrung wegen einer Sache gemacht hat, führt dies nicht immer dazu, dass alle anderen Aspekte auch mitgedacht werden. Bsp. Ich achte als queere Frau ins Besondere darauf, dass Sexismus und Homofeindlichkeit keinen Platz haben. Aber ich bin weiß und habe keine Behinderung. Vielleicht fehlt mir der Blick für Rassismus oder Ableismus?
Ja, das stimmt. Nur weil du von Außenstehenden zu der Gruppe von “Menschen mit Behinderungen” zählst oder dich selbst zugehörig fühlst, heißt das nicht, dass du alle Lebensrealitäten kennst und mitdenkst. Daher versuchen wir auf unterschiedliche Formen von Behinderungen aufmerksam zu machen und auch sogenannte unsichtbare oder psychische Behinderungen, wie ADHS oder Autismus, mitzudenken. Behinderung ist nicht gleich Behinderung.
Und um zu erreichen, dass wirklich voneinander gelernt wird und auch inklusive Strukturen entstehen, war uns wichtig: Das Programm soll kein Sondersystem sein. Es war eine sehr bewusste Entscheidung, dass das Programm für Menschen mit UND ohne Behinderungen offen ist, um nicht wie Heime oder Werkstätten Menschen mit Behinderung von sogenannten „Leistungsträger*innen“ zu trennen. Auf dieses kontraproduktive System wollen wir auf keinen Fall einzahlen. Wir wollen Teilhabe.
Wie ist das Programm denn aufgebaut?
Im Starter Programm sind es vom Start bis zum Programmschluss ca. acht Wochen. Dieser Zeitraum reicht aus, um von der Idee bis hin zum ersten Prototypen das Geschäftsmodell auszuarbeiten. Das Ganze ist durch die Methodologien des Design Thinkings und Lean Startup angelehnt, Innovationsmethoden, die einen iterativen Ansatz haben. Während der acht Wochen werden Startups von Coaches begleitet, die oftmals selbst eine Behinderung haben und erfolgreich gründeten. Behinderung spielt im Programm keine spezifische Rolle, das es von Anfang an selbstverständlich barrierefrei gedacht wird.
Disability Mainstreaming ist das Ziel: Das heißt, dass die Personen in erster Linie Gründer*innen sind und die Behinderung nur eine untergeordnete Rolle spielt. Das spiegelt sich auch in den Ideen wider, die die Leute haben. Diese sind sehr unterschiedlich. Manche sind sozial und explizit auf Teilhabe ausgerichtet- und andere nicht. Jedoch achten wir darauf, dass bei jedem Projekt Menschen mit Behinderungen mitgedacht werden.
Wie ist es für dich, als Person ohne Behinderung, dieses Projekt aufzusetzen und daran zu arbeiten. Fühlt sich das richtig an? Woher kriegst du die Perspektiven, die du brauchst?
Ich finde es okay, als nicht-behinderte Person das zu machen, was ich mache. Solange ich transparent bin mit meiner Perspektive, meine Privilegien kenne und Menschen mit Behinderungen ins Boot hole. Ich fände es in meiner heutigen Situation sogar irgendwie fatal, meine Privilegien nicht entsprechend einzusetzen, um hier eine Veränderung voranzutreiben.
Wenn ich über inKlub spreche, versuche ich Erfahrungsberichte von anderen zu nutzen, hole aber betroffene Personen dazu, wenn es um die Erfahrungen der Lebensrealität von Menschen mit Behinderungen geht. Mein Privileg nutze ich, um andere Perspektiven offenzulegen. Dabei merke ich auch oft, dass sich Außenstehende ohne Berührungspunkte trauen, mich Dinge zu fragen, die sie sonst nicht artikulieren können. Aufklärungsarbeit ist anstrengend, ich kann sie leisten. Also leiste ich sie. Das wiederum baut Berührungsängste ab, z.B. in Bezug auf die Sprache: Leute fragen mich dann, ob sie “behindert” oder “Behinderung” sagen dürfen. Sie wollen es richtig machen und oftmals fällt es ihnen leichter, mich zu fragen als jemanden, der*die eine Behinderung hat. Im Starter Programm selbst haben wir vor allem Coaches, die Behinderungen haben und es soll auch im Mentoring-Programm (in Entwicklung) Personen geben, die Behinderungen haben. Wir wollen gemeinsam voneinander lernen.
Was kann man im Alltag tun, um in einem Programm wie eurem, aber auch an anderen Team-Projekten mehr Inklusion zu etablieren?
Wir machen immer einen Bedürfnis-Check für alle, egal ob Behinderung oder nicht. Das ist wichtig und adaptierbar auf andere Kontexte. Wir sind darauf angewiesen, dass die Teinehmer*innen uns verraten, was sie brauchen. Jede Behinderung ist einzigartig und jeder Mensch auch.
Barrierefreiheit bedeutet jedesmal was anderes. Die Menschen kreieren das Programm selbst, niemand hat die Wissenshoheit, ich auch nicht; wir finden die im Laufe des Prozesses raus.
Was passiert die nächsten Monate, wenn alles rund läuft?
Meine Vision ist es, zu einem inklusiven ersten Arbeitsmarkt beizutragen. Wenn Unternehmen und Innovationsprogramme es nicht hinkriegen, müssen wir diese Strukturen eben selbst schaffen. Dabei ist es wichtig, den Mut nicht zu verlieren, einfach mal etwas auszuprobieren und zu gucken, was sich tut. Wir können nicht ewig warten, bis ein Systemwandel eintritt und auf einmal Teilhabe in den Fokus rückt.
Wenn andere nicht mitmachen, wird Deutschland abgehängt. Menschen mit Behinderungen können beitragen und sind keine Hürde oder Hindernis - sie wollen Mitgestaltung. Und nebenbei: Diese Mitgestaltung ist ein Menschenrecht.
Durch diesen Perspektivwechsel werden ganz neue Teams formiert, es entstehen neue Idee. Die Leute, mit denen wir arbeiten, sind extrem divers. Intersektionalität passiert dann wie von selbst, bei uns im Programm sind überdurchschnittlich viele weibliche, queere und Gründer*innen of Colour. Wenn man Inklusion so angeht, dann wird daraus ein effektiver Vorteil.
Nur weil sich eine Person ohne Behinderung sich nicht vorstellen kann, dass jemand mit Sehbehinderung E-Mails lesen kann, heißt das nicht, dass das auch so ist. Vielleicht ist die Person sogar achtmal so schnell - durch ihren Screenreader. Innovation durch Inklusion: Daran glaube ich feste.
Danke für das Gespräch, Sophie. Ich freue mich, dass wir mehr über eure Arbeit erfahren konnten.
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Das Interview führte Rea. Auf der Webseite von inKlub könnt ihr noch mehr über das Projekt erfahren. Ihr könnt inKlub auf LinkedIn und Instagram folgen oder Sophie direkt anschreiben. E-Mails können direkt an hallo(at)inklub.eu geschickt werden.