Perfektionismus – Und warum besonders oft Frauen unter dem Druck stehen, alles perfekt zu machen
Bei allem immer perfekt sein zu wollen ist nicht nur ein sehr ehrgeiziges, sondern vor allem ein unerreichbares Ziel. Besonders Frauen verspüren oft einen großen Performance Druck, alles perfekt zu machen. Ob beruflich oder privat, in vielen Lebensbereichen ist der eigene Anspruch vieler Frauen an sich selbst utopisch hoch. Aber woher kommt diese innere Haltung? Sind das individuelle Ansprüche, die einige Frauen haben und andere nicht? Oder ist es ein sich strukturell ergebendes Phänomen bei Frauen? Und was passiert eigentlich, wenn keine Perfektion erreicht wird? Verlangt jemand, dass Dinge, die gerne ausprobiert werden wollen, gar nicht erst versucht werden, weil die Möglichkeit besteht, dass man darin nicht „gut genug“ oder gar perfekt sein könnte? Falls ja, wer verlangt diese immerwährende Perfektion? Und wie viele Erfahrungen kostet diese innere Haltung letztendlich?
Climb high vs. Play safe: Unterschiedliche Sozialisation von Mädchen und Jungen im Umgang mit Erfolgen und Niederlagen
In ihrem Buch „Brave, not perfect“ (2019) erläutert Autorin und Gründerin von „Girls Who Code“ Reshma Saujani, wie unterschiedlich Jungen und Mädchen in Bezug auf Mut und Perfektion in westlich geprägten Gesellschaften sozialisiert werden und wie unterschiedlich ihnen der Umgang mit Niederlagen oft vermittelt wird (1). Während Jungen häufiger dazu ermutigt werden, Freude am Wettbewerb zu haben, eine Niederlage nicht allzu ernst zu nehmen und ihr Vorhaben nach dem „Hinfallen“ einfach gleich nochmal zu versuchen und zwar so lange, bis es klappt, werden Mädchen eher zur Vorsicht und Rücksichtnahme erzogen („Play safe“). Eltern von Mädchen haben tendenziell öfter Angst davor, dass sich ihre Töchter beim wilden Spielen weh tun und signalisieren ihnen dadurch, dass sie lieber vorsichtig sein und sich besser nicht verletzen sollten.
Perfection or Bust
Reshma Saujani erläutert, dass diese unterschiedliche Sozialisation bei Jungen und Mädchen im späteren Erwachsenenalter dazu führt, dass Männer oft risikobereiter sind als Frauen, weniger Angst vor Niederlagen haben und besser mit ihnen umgehen können, weil sie Niederlagen oft weniger persönlich nehmen (1). Frauen tendieren dazu, sich in vielen Bereichen auf der „sicheren Seite“ zu bewegen, indem sie beispielsweise nicht unbedingt die Berufe ergreifen, die ihnen besonders viel Spaß machen, sondern eher die, von denen sie wissen, dass sie gut darin sein werden. Dieser Gedanke wirft die Frage auf, inwiefern Männer und Frauen unterschiedliche „natürliche“ Talente haben und ob die unterschiedliche Förderung der Geschlechter hierbei eine größere Rolle spielt, als gemeinhin angenommen wird. Auch gibt es doppelte Bewertungsmaßstäbe als eine Form des Gender Bias, beispielsweise wenn die gleichen Verhaltensweisen bei Männern positiv und bei Frauen negativ aufgefasst werden (souverän vs. „bossy“). Mehr Infos zu diesem Thema findest du in diesem Instagram Post oder in unserem Blogartikel „Gender-Bias: Ein sexistischer Denkfehler“.
Wie viel Mut kostet Perfektion und wer darf scheitern?
Besonders im beruflichen Kontext zeigt sich die unterschiedliche frühkindliche Sozialisation bei Frauen und Männern, beispielsweise wenn es um Gehaltsverhandlungen geht oder bei der Einschätzung der eigenen Fähigkeiten beim Bewerben auf Stellenanzeigen. Laut einer Studie von Hewlett-Packard bewerben sich Männer oft, wenn sie ca. 60% der Anforderungen einer Stellenbeschreibung erfüllen, Frauen hingegen, wenn sie 100% der Anforderungen erfüllen) sowie beim Umgang mit Fehlern und Niederlagen (2).
Erlerntes kann auch wieder dekonstruiert werden
Aber wie lässt sich der innere Drang nach Perfektion überwinden? Frauen können nur bedingt die von ihnen vermittelten und einst erlernten Muster erkennen und entlernen. Sie sind angewiesen auf ein Bewusstsein aller anderen, die ihr Können und ihre Leistungen auch tatsächlich strenger bewerten. Denn häufig wird von Frauen auch mehr erwartet, sie müssen für die Anerkennung und Wertschätzung ihrer Leistung oft kämpfen und oft eben auch mehr leisten. Daraus entsteht ein Teufelskreis, den es sich lohnt zu durchbrechen. Unternehmen können hier einen Anfang machen, indem sie auf der einen Seite Räume schaffen, in denen Selbstreflektion und die eigene Auseinandersetzung mit den eigenen Glaubenssätzen zum Thema Perfektion stattfindet. Und zwar nicht nur für Frauen, sondern für alle. Weil Perfektion und die frühkindliche Sozialisierung damit eben auch alle betrifft. So könnte es gelingen, dass Niederlagen beispielsweise nicht immer negativ bewertet, sondern als Chance begriffen werden. Sie können wertvolle Erfahrungen auf dem Weg des Wachsens und Sich-Weiterentwickelns sein. Diese Haltung erfordert auf der einen Seite Mut, etwas auszuprobieren, ohne den Anspruch zu haben, dass dabei alles perfekt sein muss. Auf der anderen erfordert diese Haltung aber auch zwingend ein Umfeld, das Möglichkeitsräume fürs Ausprobieren stellt und Frauen das Privileg einräumt, scheitern zu können.
Wie könnt ihr als Unternehmen euren Angestellten helfen, Perfektionismus abzubauen?
Kein Unternehmen der Welt kann eigenhändig jahrzehntelange Sozialisierung rückgängig machen. Aber ihr könnt eure Angestellten dabei unterstützen, unnötigen Perfektionismus zu erkennen und abzulegen:
Kultiviert einen entspannten Umgang mit Fehlern. Nehmt beispielsweise eine Runde in eure Retro auf, in der alle eine Situation teilen, in der sie einen Fehler gemacht haben oder ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht wurden. Bei IN-VISIBLE treffen wir uns beispielsweise alle zwei Monate zu “IN-VISIBLE lernt” und besprechen gemeinsam die Herausforderungen und Fehler der letzten Wochen und was wir daraus für die Zukunft lernen. Wichtig: Vermeidet Selbstkasteiung und Schuldzuschreibungen - es geht darum, sichtbar zu machen, dass niemand perfekt ist, und gemeinsam aus Fehlern zu lernen.
Umgekehrt: Achtet darauf, dass alle Erfolge gewertschätzt werden, denn auch hier sind Frauen häufig zurückhaltender und werten eigene Erfolge eher als “Kleinigkeit” ab. Auch hier könnt ihr eine entsprechende Runde einführen - wir wechseln z.B. “INVISIBLE lernt” mit “IN-VISIBLE feiert” ab und sprechen alle zwei Monate über alles, was richtig gut gelaufen ist. Sich nicht nur selbst auf die Schulter klopfen zu dürfen, sondern es sogar zu müssen, kann sehr bestärkend sein.
Achtet darauf, dass Führungskräfte mit gutem Beispiel vorangehen. Wenn z.B. die Vorgesetzte sagt, dass niemand Überstunden machen muss, dann selbst aber jeden Tag länger im Büro bleibt, fühlen sich Angestellte schnell trotzdem verpflichtet, Mehrarbeit zu leisten - selbst wenn es gar nicht nötig wäre.
Checkt die Anforderungen, die ihr z.B. in Bewerbungen angebt. Sind sie tatsächlich nötig und zielführend? Gibt es Menschen, für die sie leichter erreichbar sind als für andere, und wenn ja, sind das wirklich die Menschen, die ihr hauptsächlich erreichen wollt? Überprüft in dem Zuge auch eure Sprache, z.B. mit dem Gender Decoder, denn es ist nachgewiesen, dass sich Frauen durchschnittlich von anderen Begriffen angesprochen fühlen als Männer. Vermeidet vor allen Dingen Superlative und aggressive Sprache.
Je mehr ihr aufmerksam darauf achtet, wer für was gefeiert wird, wer sich Raum nimmt oder nicht, und wer aus welchen Gründen gesehen wird, desto mehr macht ihr euer Unternehmen zu einem Ort, wo sich alle nicht nur wohlfühlen, sondern ihre beste Arbeit leisten - ganz ohne unnötigen Perfektionismus.
(1) Reshma Saujani, 2019, Brave not perfect; Ted Talk zum Buch unter https://www.youtube.com/watch?v=fC9da6eqaqg
(2) HP Bericht