Es ist inzwischen auch in der Arbeitswelt angekommen: In Deutschland gibt es offiziell mehr als zwei Geschlechter, das Selbstbestimmungsgesetz erlaubt eine unkompliziertere Änderung von Namen und Geschlechtseintrag und Unternehmen müssen lernen, damit umzugehen – von nötigen Änderungen in der technischen Infrastruktur bis hin zur respektvollen Anrede von Mitarbeitenden aller Geschlechter. Dieser Gastbeitrag schaut sich den gesetzgeberischen Weg dorthin genauer an und erklärt, wie es eigentlich zum „dritten Geschlecht“ kam, was das Selbstbestimmungsgesetz ist und warum queere Rechte in Deutschland häufig vor Gericht erkämpft wurden und werden.
Zum Inkrafttreten des Selbstbestimmungsgesetzes: Gerichtsurteile und ein schwerfälliger Gesetzgeber
Am 1. November 2024 ist in Deutschland das Selbstbestimmungsgesetz in Kraft getreten (Selbstbestimmungsgesetz 2024), das die Rechte von trans, inter und nicht-binären Menschen erheblich stärkt, indem es eine unkomplizierte Änderung von Vornamen und Geschlechtseintrag erlaubt. Eine genauere Betrachtung der Geschichte geschlechtlicher Selbstbestimmung in Deutschland offenbart jedoch ein problematisches Muster, das sich fortzusetzen scheint: Rechtliche Stärkung von trans, inter und nicht-binären Menschen kommt in Deutschland vor allem durch Gerichte zustande, wenn also – häufig durch das Bundesverfassungsgericht – eine bestehende Situation für verfassungswidrig erklärt wird. Der Gesetzgeber bessert dann mühselig ein kleines bisschen nach, nur um konsequenterweise von weiteren, notwendig gewordenen Klagen überrascht zu werden. Das kann so nicht weitergehen, denn es geht zulasten von trans, inter und nicht-binären Menschen, denen ihre in aufwendigen Klagen erkämpften Menschenrechte nur häppchenweise zugestanden werden. Die Gesetzgebung unterdessen hält ihre verkommenen Vorstellungen heteronormativer Zweigeschlechtlichkeit wo immer möglich aufrecht. Eine Geschichte.
Eine kurze Geschichte der Selbstbestimmung in Deutschland
Wir beginnen im Jahre 1978: Das Bundesverfassungsgericht urteilt, dass es gegen die Persönlichkeitsrechte einer trans Person verstößt, mit dem falschen Geschlechtseintrag leben zu müssen (BVerfG 1978). Der Gesetzgeber reagiert darauf 1980 mit dem „Transsexuellengesetz“, dem man sein Alter schon am Namen anmerkt (Transsexuellengesetz 1980). Das Gesetz erlaubt trans Personen, ihren Namen und Geschlechtseintrag in einem aufwendigen und mehrere tausend Euro teuren Prozess zu ändern. Voraussetzung dafür sind u. a. zwei Gutachten, für die den Betroffenen intime, grenzüberschreitende Fragen gestellt werden, die darüber hinaus nichts mit Transsein zu tun haben. (Adamietz und Bager 2016) kommen in einem Gutachten für das Bundesfamilienministerium zu dem Schluss, „dass das aktuell geltende TSG in mehrfacher Hinsicht gegen Grundrechte und internationale Menschenrechtsübereinkommen wie die EMRK verstößt“ (Abschnitt 2.1.1). Viele weitere Voraussetzungen erklärte das Bundesverfassungsgericht in zahlreichen Klagen für verfassungswidrig. So müssen sich seit 2009 trans Personen nicht mehr scheiden lassen (BVerfG 2008) und – im Deutschland nach 1945 besonders beunruhigend – bis 2011 war noch Zwangssterilisation vorgesehen (BVerfG 2011).
In den 2010er Jahren bekommen auch intergeschlechtliche Personen mehr Rechte: Seit 2013 kann bei Neugeborenen, die „weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden“ können, der Geschlechtseintrag auch offen gelassen werden (BGBl 2013). Man beachte, dass trotz dieser Formulierung gesetzlich nirgends definiert wird, nach welchen Kriterien die vorherrschende binäre Zuordnung in „männlich“ und „weiblich“ zu erfolgen habe. Der Gesetzgeber gesteht intergeschlechtlichen Menschen minimale Rechte zu und hält weiterhin an seinem axiomatischen Wissen von nicht-hinterfragter Zweigeschlechtlichkeit (Hirschhauer 1996) fest. Die Neuregelung ist nicht durchdacht und lässt zahlreiche Fragen offen, etwa ob Personen mit offenem Geschlechtseintrag die heterosexuell-exklusive Ehe oder eine Lebenspartnerschaft zugestanden werden und inwieweit geschlechtsspezifische Regelungen wie Mutterschutz gelten (Sieberichs 2013; Prantl 2013).
Verbände kritisieren zudem, dass ein fehlender Geschlechtseintrag zu weiterer Stigmatisierung und Pathologisierung einlädt und Eltern und Ärzt*innen weiterhin zu menschenrechtswidrigen Maßnahmen wie Genitalverstümmelungen zur „Vereindeutlichung“ des Geschlechts verleitet (OII Germany 2013). Es brauchte ein weiteres Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG 2017), das eine fehlende positive Selbstbezeichnung im Geschlechtseintrag als grundrechtsverletzend einstuft: In der Folge entschied sich der Gesetzgeber zwar nicht für eine Abschaffung des Geschlechtseintrags, aber für eine Quasi-Drei-(oder sogar Vier-?)geschlechtlichkeit, und so gibt es seit 2018 den Geschlechtseintrag „divers“ (§ 22 Abs. 3 PStG).
Was ist das Selbstbestimmungsgesetz?
Nun tritt 2024 endlich das eingangs erwähnte Selbstbestimmungsgesetz (SBGG) in Kraft und löst das TSG ab. Die Essenz des SBGG ist schnell zusammengefasst: Trans, inter und nicht-binäre Menschen können Vornamen sowie Geschlechtseintrag künftig durch eine einfache Erklärung vor dem Standesamt ändern. Ein Novum ist hierbei, dass dem Gesetz kein Gerichtsurteil vorausgehen musste (Bundesverband Trans* 2024). Ohne gesetzgeberische Initiative wäre jedoch ohnehin davon auszugehen gewesen, dass das TSG mit der Zeit auf etwas Menschenrechtskompatibles zurechtgeklagt worden wäre.
Diskriminierung, Misstrauen, Fremdbestimmung
Das SBGG wurde als solches von queeren Verbänden deutlich begrüßt (Bundesverband Trans* 2024; LSVD⁺ 2024), dennoch bleibt einiges an Kritik bestehen, denn der Gesetzgeber scheint fortwährend nicht in der Lage, queere Stimmen im Gesetzgebungsprozess miteinzubeziehen und vorurteilsfrei für die Anerkennung queerer Rechte zu sorgen. Das SBGG ist durchzogen von Misstrauen gegenüber trans Personen, insbesondere Transmisogynie, also – Stichwort Intersektionalität – Hass auf Menschen, weil sie sowohl trans als auch weiblich sind.
Außerdem sieht es bspw. eine dreimonatige Anmeldefrist beim Standesamt vor, ganz so als wüssten trans Personen anders als cis Personen nicht über ihr Geschlecht Bescheid und bräuchten „Bedenkzeit“. Minderjährige erfahren Diskriminierung aufgrund ihres Alters, denn sie brauchen die Zustimmung der Eltern oder eines Familiengerichts. Das ist problematisch, denn ihnen wird auf der einen Seite von Geburt an ein Geschlecht zugewiesen, auf der anderen Seite sind sie weiterhin von Fremdbestimmung abhängig, die das SBGG eigentlich beenden will.
In einigen Fällen stellt das SBGG auch eine Verschlechterung der Situation dar, etwa bei der Vornamenswahl: Waren vorher noch unabhängige Änderung von Vornamen und Geschlechtseintrag möglich, so schreibt das SBGG nun vor, dass Vornamen „zum gewählten Geschlechtseintrag passen“ müssen. Das erlaubt vor allem Diskriminierung von nicht-binären Personen, wenn eine Person z. B. ihren Geschlechtseintrag auf „divers“ ändern möchte, aber ihren Vornamen behalten. Und wer bestimmt schon, wie im Deutschen ein vermeintlich „geschlechtsneutraler“ Vorname auszusehen hat? Der Gesetzgeber scheint nicht mitgedacht zu haben und so werden je nach Auslegung der Standesämter wohl wieder Gerichte aktiv werden müssen. Autonomie und Selbstbestimmung sehen anders aus.
Weitere Kritikpunkte, bei denen das SBGG hinter Erwartungen von geschlechtlicher Selbstbestimmung zurückbleibt, sowie Stellungnahmen verschiedenster Verbände, finden sich auch unter (SBGG Info 2024).
Wie es weitergeht
Erneut zeigt sich, dass ein Gesetz zwar erhebliche Verbesserungen bringt, aber der Gesetzgeber immer noch nicht in der Lage scheint, queere Menschen vorurteilsfrei und mit Respekt zu behandeln. Dass das in Zukunft so weitergehen könnte, zeigt das Abstammungsrecht. Im derzeitigen BGB finden sich folgende Paragrafen:
§ 1591 Mutterschaft
Mutter eines Kindes ist die Frau, die es geboren hat.
§ 1592 Vaterschaft
Vater eines Kindes ist der Mann, 1. der zum Zeitpunkt der Geburt mit der Mutter des Kindes verheiratet ist, 2. der die Vaterschaft anerkannt hat […]
Der Gesetzgeber hat bisher versäumt, das Abstammungsrecht dem geänderten gesetzlichen Rahmen anzupassen, Öffnung der Ehe 2017 und Selbstbestimmungsgesetz zum Trotz. Erstens nennt das BGB die gebärende Person grundsätzlich „Mutter“, egal welchen Geschlechtseintrag die Person, bspw. ein trans Mann, tatsächlich hat. Zweitens kennt das BGB ganz heteronormativ nur einen Vater als zweites Elternteil – hat das zweite Elternteil aber keinen männlichen Geschlechtseintrag, bekommt das Kind nur eine Mutter und müsste diskriminierend als Stiefkind adoptiert werden. Davon sind selbstverständlich nicht nur trans, inter und nicht-binäre Personen betroffen: Es bleibt abzuwarten, ob Klagen von lesbischen Paaren vor dem Bundesverfassungsgericht (Nodoption 2022) erfolgreich werden, oder ob die vom Bundesjustizministerium versprochenen Reformen nicht länger auf sich warten lassen und das erfüllen, was sie versprechen (Bundesjustizministerium 2024).
Was bleibt
Gesetze wie das Selbstbestimmungsgesetz, eigentlich ein Grund zum Feiern, bekommen einen schlechten Beigeschmack, wenn sie Vorurteile weiterführen, wo sie eigentlich Diskriminierung abbauen sollen. Die Gesetzgebung bewegt sich langsam und hält allzu gerne an ihrer ach-so-lieben Cisheteronormativität fest. Es fehlt die Courage, umfassende, notwendige Änderungen herbeizuführen, die queere Menschen respektieren, bestehende Diskriminierung anerkennen und längst überfällige Rechte zugestehen. Dass Gerichte die Gesetzgebung vor sich hertreiben, ist schade und geht besser.
Dieser Text ist im Seminar „Diversity im Lern- und Arbeitsumfeld“ entstanden, welches Rea Eldem, Gründerin und Geschäftsführerin von IN-VISIBLE, am Hasso-Plattner-Institut leitet. Die gastbeitragende Person studiert im Studiengang IT-Systems Engineering.
Bibliographie
Adamietz, Laura Dr., und Katharina Bager. 2016. „Gutachten: Regelungs- und Reformbedarf für transgeschlechtliche Menschen“. In Begleitmaterial zur Interministeriellen Arbeitsgruppe Inter- & Transsexualität – Band 7. Humboldt-Universität zu Berlin.
BGBl. 2013. Gesetz zur Änderung personenstandsrechtlicher Vorschriften. BGBl. 2013 I Nr. 23.
Bundesjustizministerium. 2024. „Abstammungsrecht – Fragen der Eltern-Kind-Zuordnung“. https://www.bmj.de/DE/themen/gesellschaft_familie/kinder/abstammungsrecht/abstammungsrecht_node.html
Bundesverband Trans*. 2024. „Das Selbstbestimmungsgesetz ist verabschiedet!“https://www.bundesverband-trans.de/sbgg-verabschiedet/
BVerfG. 1978. „Beschluß des 1. Senates vom 11. Oktober 1978“
———. 2008. „Beschluss des Ersten Senats vom 27. Mai 2008“.
———. 2011. „Beschluss des Ersten Senats vom 11. Januar 2011“.
———. 2017. „Beschluss des Ersten Senats vom 10. Oktober 2017“.
Hirschhauer, Stefan. 1996. „Wie sind Frauen, wie sind Männer? Zweigeschlechtlichkeit als Wissenssystem“. In Was sind Frauen? Was sind Männer? Geschlechterkonstruktionen im historischen Wandel, von Claudia Nowak (Hg.), S. 240–254
LSVD⁺. 2024. „Endlich: Das Selbstbestimmungsgesetz ist da!“
Nodoption. 2022. „Nodoption – Elternschaft anerkennen“. https://www.nodoption.de
OII Germany. 2013. „Mogelpackung für Inter*: Offener Geschlechtseintrag keine Option“.
Prantl, Herbert. 2013. „Geschlechter im deutschen Recht: Männlich, weiblich, unbestimmt“. https://www.sueddeutsche.de/leben/geschlechter-im-deutschen-recht-maennlich-weiblich-unbestimmt-1.1747380
SBGG Info. 2024. „Bestehende Kritik am Selbstbestimmungsgesetz“. https://sbgg.info/kritik/
Selbstbestimmungsgesetz. 2024. Gesetz über die Selbstbestimmung in Bezug auf den Geschlechtseintrag und zur Änderung weiterer Vorschriften. BGBl. 2024 I Nr. 206. https://www.recht.bund.de/bgbl/1/2024/206/VO
Sieberichs, Wolf. 2013. „Das unbestimmte Geschlecht“. In FamRZ, S. 1180–1184
Transsexuellengesetz. 1980. Gesetz über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen. BGBl. I S. 1654, zuletzt geändert durch Art. 2 Abs. 3 G. v. 20.7.2017 (BGBl. I S. 2787). https://www.gesetze-im-internet.de/tsg/BJNR016540980.html